Kapitel 1: Der Bodyguard

 

 

LEYLA

 

Ich war sechzehn, als meine Mutter durch einen Unfall ins Koma fiel. Dies war mittlerweile fast ein Jahr her und sie ist noch immer nicht aufgewacht. Da sie eine bekannte Schauspielerin ist, hatte ich als Kind durch sie ein paar kurze Fernsehauftritte in Serien oder Filmen. Auch wenn ich immer noch gerne Werbespots drehe oder bei Filmen kleine Rollen spiele, macht mir das Modeln mehr Spaß.

Seit meine Mutter in diesen tiefen Schlaf gefallen ist, lebe ich mit meinem Stiefvater in unserem Haus in North Hollywood. Er hat sich sehr verändert. Doch nur ich weiß davon. Nur ich kann es sehen. Und manchmal auch spüren. Tag für Tag. Nacht für Nacht.

 

 

 

 

Neben der Schule arbeite ich als Model. Auf der Hollywood High School belege ich, unter anderem, das Fach für bildende Künste. Dadurch kann ich meine schauspielerischen Fähigkeiten verbessern und auch als Model mein Wesen vor der Kamera besser in Szene setzen. Da im Moment Sommerferien sind, kann ich mich ganz darauf konzentrieren.

Eigentlich beginnt das Fotoshooting erst um zehn Uhr vormittags, doch heute war wieder eine dieser Nächte. Also stehe ich schon um sechs Uhr auf, um mich frischzumachen und die blauen Flecken und roten Male zu überschminken.

 Natürlich sind die Leute am Set Profis in ihrem Job, sodass ich später noch in die Maske muss. Jedoch kann ich es mir nicht leisten, dass

Fragen gestellt werden. Zu viel Medienrummel um meine Person. Zu viel Neugierde.

 Ich will mich keineswegs beschweren. Ich mag Aufmerksamkeit. Doch diese birgt Gefahren.

 Als ich genug Puder und Abdeckstift aufgetragen habe, mache ich mich auf den Weg zum Shooting.

 Bevor ich das Haus verlasse, sehe ich noch einmal in den Spiegel im Eingangsbereich. Zum Glück wirken meine Augen nicht allzu verquollen. Es ist erstaunlich, wie sehr man einen Menschen mit Schminke verändern kann.

 Dann blicke ich ein letztes Mal zu meinem Stiefvater. Er sieht friedlich aus, wie er da auf der Couch schläft. Beinahe befreit, selbst wenn es keine Erlösung für ihn gibt.

 Er war nicht immer so. Bevor meine Mutter diesen Unfall hatte, waren wir eine glückliche Familie. Umso mehr hat es mich geschockt, wie er sich verändert hat und langsam daran zugrunde geht. Er hat seinen Job aufgegeben, sich vor der Welt verschlossen und sich nur noch um mich gekümmert. Bis er meinen Anblick nicht mehr ertragen konnte. Immer häufiger hat er mir gesagt, wie ähnlich ich ihr sehe. Dass er nicht ihr Gesicht vor sich haben will und er sie so nicht vergessen könne. Er erträgt den Schmerz nicht und will mich deshalb daran teilhaben lassen. An seinen Schmerzen. Ich sollte fühlen, was er fühlt, verstehen, warum er so ist. Doch ich begreife es nicht. Ich versuche, ihm zu verzeihen, mich in ihn hineinzuversetzen, denn auch ich habe jemanden verloren. Jedoch will es mir nicht gelingen. Und wäre diese letzte Nacht nicht gewesen, fiele mein Mitleid für ihn größer aus.

 

 Beim Set angekommen reicht mir meine Assistentin Claire schon meinen Morgenkaffee, während ich ihr entgegen gähne.

 «War es wieder eine lange Nacht?», zwinkert sie mir verschwörerisch zu. Sie denkt wohl, ich wäre um die Häuser gezogen oder etwas in der Art.

 «Nein. Bin nur seit sechs Uhr auf.»

 «Wow. Warum so früh?», fragt sie sichtlich überrascht.

 «Morgensport», fällt es mir schnell ein. «Ich muss ja fit bleiben.»

 Lächelnd öffnet Claire die Tür zu meinem Wohnwagen. Momentan werden die Aufnahmen in einem Filmstudio in Hollywood gemacht. In meinem privaten Bereich wechsele ich jeden Morgen meine Kleidung für das Fotoshooting. Meine Arbeit als Model ist auch der Grund, warum ich gut schminken und unschöne Stellen auf der Haut mit Abdeckstiften beinahe verschwinden lassen kann.

 Als Claire die Tür wieder schließt, bin ich kurz alleine. Es liegt bereits alles bereit. Auf einem Stuhl finde ich eine Hotpants aus Jeansstoff und ein sexy ledernes Top mit Fransen.

 Daneben liegen ein Cowboyhut und Reiterstiefel aus braunem Leder. Somit wäre das Thema des heutigen Shootings klar. Zum Abschluss streife ich mir noch die Stiefel über und bemerke dabei, wie sehr meine Unterschenkel schmerzen. Auch wenn ich sie gut abgedeckt habe und die Stiefel als zusätzlicher Sichtschutz dienen, spüre ich die blauen Flecken von letzter Nacht.

 Warum konnte er nicht noch eine Nacht warten? Dann hätte ich zwei freie Tage gehabt. All die Posen heute müssen perfekt sitzen, selbst mit Schmerzen. Man erkennt es auf einem Foto sofort, wenn der Künstler nicht bei der Sache ist.

 All diese Gedanken helfen mir jedoch nicht, die Realität zu verdrängen. Ich muss Haltung bewahren und meinen Beruf professionell ausüben. So selbstsicher wie immer schreite ich zu dem Container, in dem man mir Frisur und Make-up macht. Fertig gestylt komme ich in der Halle fürs Fotoshooting an, dort begrüßt mich auch schon Patrick, mein Fotograf, indem er mir ein Lasso in die Hand drückt.

 «Viel Spaß damit. Aber verletz niemanden.» Er grinst breit.

 «Sehr witzig», gebe ich augenrollend zurück und muss schlucken, als ich auf die Wurfleine schaue. Wenn er wüsste, was dieses kleine Seil wirklich in mir auslöst, hätte er den Witz bestimmt unterlassen. Aber er weiß es nicht. Ebenso wenig wie irgendjemand sonst.

 Danach setze ich mich auf den Stein aus Styropor, der für die Kulisse gebaut wurde, und mache verschiedene Posen, die mir Patrick vorgibt. Hinter mir befindet sich eine Leinwand mit einem Abbild des Grand Canyon. Dazwischen sind ein paar Kakteen aufgebaut.

 Der Höhepunkt des Tages, ist jedoch das wunderschöne Pferd, ein weißer Schimmel mit wilder Mähne. Der Aufstieg erweist sich als schwierig, da ich keinen Sattel habe, aber sein Fell fühlt sich unglaublich weich an zwischen meinen Schenkeln. Für einen Augenblick vergesse ich dadurch selbst die blauen Flecken.

 

 

 

 

Am späten Nachmittag ist es dann geschafft. Doch bevor ich mich umziehen kann, ruft mich mein Manager zu sich.

«Was gibt’s, Matt?», frage ich, erschöpft von den letzten Stunden.

 «Ich möchte dir jemanden vorstellen.»

 Ein Mann in Hemd und Jeans tritt an uns heran. Er ist etwa einen Meter neunzig groß und hat sehr breite Schultern. Sein Dreitagebart unterstreicht seine Männlichkeit und ich muss gestehen, dass diese Muskeln etwas in mir auslösen. Er hat seine dunkelblonden Haare zu einem Dutt gebunden und trägt eine Sonnenbrille. Dabei scheint keine Sonne im Studio. Vielleicht ist es eine Optische und er ist auf sie angewiesen, oder er will einfach nur geheimnisvoll wirken.

 «Das ist Shane Marino. Er ist neunundzwanzig Jahre und Bodyguard», erklärt Matt.

 Also cool wirken. Ich mustere ihn von oben bis unten, weiß jedoch nicht, was Matt mir damit sagen will. «Schön», antworte ich schließlich.

 «Ich habe ihn bei einer Agentur für Personenschutz gemietet. Er wird dir ab heute zugeteilt», ergänzt Matt.

 Meine Kinnlade klappt herunter. «Wie bitte?» Habe ich richtig gehört?

 Matt erläutert mir die Situation abermals, trotzdem will ich es nicht wahrhaben.

 «Ich bin alt genug, ich brauche keinen Babysitter», erwidere ich.

 «Bodyguard», erklärt nun der Fremde mit der Sonnenbrille, der offensichtlich denkt, ich bin begriffsstutzig.

 Ich werfe ihm einen finsteren Blick zu und widme meine Aufmerksamkeit dann wieder Matt.

 «Warum auf einmal? Wozu brauche ich einen Bodyguard?»

 «Du hast mittlerweile einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht. Wenn du dich in der Öffentlichkeit zeigst, erkennt man dich auf der Straße. Die letzten Male haben uns gezeigt, dass es an der Zeit ist, dir einen Beschützer zur Seite zu stellen.»

 Bei meinen letzten alltäglichen Einkäufen waren meine Fans wirklich aufdringlich. Trotzdem will ich keinen Bodyguard. Zumal ich ohnehin genug damit zu tun habe, mein Geheimnis vor meinen Arbeitskollegen und Freunden zu verbergen. Wenn nun ein Typ auftaucht, der für meine körperliche Sicherheit verantwortlich ist, macht dies das Leben bloß komplizierter. Was Matt natürlich nicht weiß.

 «Ich danke euch für eure Fürsorge, aber ich will und brauche keinen Bodyguard.» Ich drehe mich zu dem Sonnenbrillentyp. «Es tut mir leid, du hast den weiten Weg umsonst auf dich genommen.»

 Ich drehe mich um und marschiere zu meiner Kabine, um mich umzuziehen. Für mich ist das Thema beendet. Ein paar Schritte gegangen, bemerke ich, wie mir jemand hinterhergeht. Ich blicke kurz über meine Schulter und entdecke den fremden Mann.

 «Folgst du mir etwa?», frage ich und wende mich um.

«Ich soll auf dich Acht geben. Das ist meine Aufgabe.»

 «Danke. Aber wie schon gesagt, ich brauche deine Hilfe nicht.»

 Als ich die Tür zum Wohnwagen öffnen will, kommt mir dieser Shane zuvor. Er drängt sich an mir vorbei, öffnet vorsichtig, blickt kurz hinein und sieht sich dann im Inneren um. Völlig perplex bleibe ich stehen und weiß nicht so recht, was ich davon halten soll. Der Kerl ist irgendwie … gruselig. Nach ein paar Sekunden kommt er wieder heraus. «Ist sicher. Du kannst dich jetzt umziehen.»

 «Danke, Sonnenbrillenheini.» Kurz verdrehe ich die Augen, bevor ich mich wieder fange, und an ihm vorbeischreite.

 «Ich heiße Shane», erklärt er, während ich bereits die Tür schließe. Ein letztes Mal schaue ich aus dem Fenster und sehe, dass er draußen auf mich wartet. Ich muss also einen anderen Weg finden, um ihn loszuwerden.

 

 

 

 

 Nach ein paar Minuten habe ich mich umgezogen und meine Sachen gepackt. Während ich die Tür aufschließe, lasse ich einen Kontrollblick durch den Wohnwagen wandern, ob ich auch nichts vergessen habe.

 «Darf ich mal durch?», frage ich Shane, der immer noch den Ausgang versperrt, indem er auf den Trittstufen sitzt und wartet. Ohne ein Wort steht er auf und lässt mich passieren, folgt mir jedoch erneut. Um meinen Standpunkt klarzumachen, drehe ich mich abrupt um und starre ihn nieder. Überrascht hält er inne.

 «Hör zu, Sonnenbrillenheini, ich brauche deine Dienste nicht. Du kannst wieder nach Hause fahren. Nimm dir für heute frei. Und auch morgen, am besten den ganzen Monat. Oder such dir gleich einen anderen Job, mir egal. Aber hör auf, mir nachzulaufen wie ein Hund.»

 Damit wende ich mich ab und will schon gehen, als mich eine Hand erst zurückhält, dann mit einem Ruck herumdreht. Shane setzt seine Sonnenbrille langsam auf seinen Kopf, zwei dunkle Augen funkeln mich plötzlich an.

 «Jetzt hörst du mir mal zu, Süße.» Er wagt es tatsächlich, mir zu widersprechen. «Wir können es auf die harte oder die leichte Tour machen. Ganz wie du willst.» Er lässt mich wieder los und verschränkt die Arme vor der Brust. «Du entscheidest.»

 Ein paar Sekunden bin ich förmlich gebannt von seiner herrischen Ausstrahlung. Doch dann blase ich meine Brust auf, um größer zu wirken und mehr Kraft in meiner Stimme zu haben.

 «Was glaubst du, wer du bist?», stelle ich die Gegenfrage, doch Shane hebt nur spöttisch eine Augenbraue. «Wenn du mir drohst, dann sorge ich dafür, dass du dich mir nicht mehr auf dreißig Fuß nähern darfst.» So. Das sollte genügen. Diesem arroganten Mistkerl musste man klarmachen, wer hier die Hosen anhat.

 Leider bleiben meine Worte ohne Erfolg, denn er wirft mir nur ein fieses Grinsen entgegen. Vorsichtig nähert er sich und umfasst meine Hüften. Ehe ich mich versehe, hat er mich hochgehoben und über die Schulter geworfen.

 «Hey! Lass’ mich runter!», brülle ich so laut, dass es mittlerweile die ganze Crew gehört haben sollte. Doch er lacht nur und geht weiter.

 «Was soll der Mist?», frage ich wieder. «Wenn du mich nicht loslässt, wird das Konsequenzen haben.»

 Erneut werde ich nur ausgelacht. «Ach ja? Willst du mich mit deinem Lasso irgendwo fesseln, damit ich dir nicht mehr folgen kann? Oder bewirfst du mich lieber mit deinen Schminksachen?»

 Dieser Mistkerl! Der findet es witzig, mich zu kidnappen. Ja genau, das hier ist eine Entführung. Jemand sollte die Polizei rufen. Aber als ich am Set vorbeigetragen werde, sehe ich, wie Matt und ein paar andere lachen. Claire zeigt mir den Daumen nach oben, als hätte ich soeben irgendeinen Erfolg verzeichnet. Selbst wenn ich es versuchen würde, könnte ich mich gegen diesen Mann nicht zur Wehr setzen. Als mir dies bewusst wird, läuft mir ein Schauer über den Rücken und ich fange an, leicht zu zittern.

 Offenbar hat Shane registriert, dass etwas nicht stimmt, und lässt mich herunter. Dann mustert er meinen Körper von oben bis unten, weil ich immer noch zittere.

 «Alles in Ordnung?», fragt er schließlich. «Ist dir kalt?»

 «Nein, es geht schon.» Auch ich bringe ihm mehr Freundlichkeit entgegen, da ich merke, dass ich ihm nicht entfliehen kann, selbst wenn ich wollte. Dieses Gefühl löst leichte Panik in mir aus.

 «Na komm, den Rest des Weges schaffst du auch alleine.» Er deutet mit einem Nicken auf das Auto, das nicht weit von uns entfernt parkt. «Ich bringe dich nach Hause.»

 Ohne Widerrede folge ich seiner Aufforderung und bleibe vor der Beifahrertür stehen. «Bringst du mich jetzt in deinen Keller, wo du schon zehn andere Frauen eingesperrt hast? So dass man mich nie wieder findet.» Vergeblich versuche ich, mit Sarkasmus meine Angst zu verschleiern.

 «Das war der Plan», grinst er verführerisch und dreht dabei mit zwei Fingern mein Gesicht zu ihm, um mir tief in die Augen zu sehen. Für ihn ist es nur ein Spiel. Er weiß nicht, wie ich mich fühle und wie gefährlich dies für mein Inneres ist.

 Nach ein paar Sekunden lässt er von mir ab und geht zur Fahrertür, öffnet sie und setzt sich hinein. Erst nachdem er den Motor anlässt, erwache ich aus meiner Starre und fasse mir mit der Hand, an die Stelle, wo mein Herz sitzt. Ich kann fühlen, wie es immer noch vor Panik rast.

 Kaum eingestiegen und angeschnallt, starre ich auf meine Füße, um wieder zu mir zu finden. Ich atme noch einmal tief durch, bevor ich den Kopf hebe und zu Shane sehe, der aus irgendeinem Grund noch nicht losgefahren ist.

 «Ist wirklich alles okay?», fragt er, nun sichtlich besorgt.

 Ich kann nur nicken, da mir zu mehr die Kraft fehlt.

 «Ich wollte dir keine Angst einjagen. Tut mir leid.» Endlich hat er realisiert, dass mich seine Worte mehr erschütterten, als er es beabsichtigt hatte.

 Während Shane losfährt, konzentriere ich mich darauf, meinen Atem wieder zu regulieren und die Angst zu vertreiben, die mir die Brust zuschnürt. Doch dann fällt mir wieder ein, wohin wir fahren und erneut drohe ich am Kloß in meinem Hals zu ersticken. Denn mein Zuhause ist der einzige Ort, an dem ich niemals sein will.

 

 

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